Forschen

Von Barrieren zu Brücken.

Barrierefreie Videokonferenzen mit Jitsi Meet.


Videokonferenzen sind Alltag. Immer öfter treten digitale Formate an die Stelle persönlicher Treffen und zahlreiche Veranstaltungen verlagern sich ins Netz oder werden in hybrider Form umgesetzt. Doch nicht jeder kann gleichermaßen teilnehmen: für Menschen mit Seh- oder motorischen Einschränkungen sind viele Videokonferenzsysteme schwer zugänglich. Jitsi Meet, ein etabliertes Open-Source-Videokonferenzsystem, wurde von GONICUS für einen Kunden aus der öffentlichen Verwaltung im Kontext der Barrierefreiheit optimiert. Dieser praxisnahe Erfahrungsbericht erläutert die problematische Ausgangslage, die umgesetzten Maßnahmen und zeigt, welche Wirkung diese Anpassungen für die Anwender haben.


Bildschirm reicht Hand


Historische Ausgangslage von Jitsi

Um die heutigen Barrieren zu verstehen, lohnt ein Blick zurück: Jitsi entstand in einer Zeit, in der Barrierefreiheit im Web kaum eine Rolle spielte. Die Geschichte von Jitsi beginnt 2003 mit dem SIP-Communicator, einer studentischen Arbeit an der Universität Straßburg. 2011 erfolgte die Umbenennung in Jitsi - aus dem Bulgarischen: Drähte.

2012 kamen Videokonferenzfunktionen hinzu, 2013 die Videobridge, die für effizientes Stream-Routing sorgt. 2014 startete Jitsi Meet als Web-App. Spätestens seit der Corona-Pandemie 2020 sind Videokonferenzen im Alltag angekommen.

Technisch basierte die Jitsi-Weboberfläche in dieser Zeit auf Elementen wie colibri.js und strophe-jingle. In der frühen Phase waren Webanwendungen stark auf generische Bausteine angewiesen. Accessibility war noch kein Standardthema, HTML5-Standards steckten in den Kinderschuhen. Viele Oberflächen sahen zwar korrekt aus, waren aber semantisch unpräzise. Screenreader und andere Assistive Technologien (AT) erhielten dadurch nur unzureichende Informationen.


Planung

Bevor Anpassungen umgesetzt werden konnten, musste klar sein, wo die größten Hürden lagen und welche Prinzipien den Umbau leiten sollte. Dem eigentlichen Umbau ging ein umfassender Barrierefreiheitstest nach den Vorgaben der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) voraus. Dadurch lag bereits vor Beginn der Arbeiten ein klares Bild über die bestehenden Defizite vor. Diese strukturierte Analyse diente als Grundlage, um die folgenden Maßnahmen gezielt und wirksam umzusetzen.


Analyse der Schwachstellen

Die Überprüfung von Jitsi’s Weboberfläche zeigte typische Muster älterer Webentwicklung:

  • Generische <div>-Elemente wurden genutzt, um Listen oder Tabellen zu imitieren.
  • Labels standen zwar neben Formularfeldern, waren aber nicht programmatisch verknüpft.
  • Popups öffneten ohne Ankündigung, der Fokus blieb auf der alten Seite.
  • Inhalt hinter dem Fokus änderte sich unbemerkt, was die mentale Karte der Nutzer störte.
  • Kontraste reichten für Menschen mit Sehschwächen nicht aus; aktive Elemente hatten oft keine klaren Markierungen.


Leitlinien

Für die Überarbeitung galten drei zentrale Prinzipien:

  • Semantik vor Workaround. Native HTML-Elemente nutzen, ARIA nur ergänzend einsetzen.
  • Fokus als Navigation. Tab-Reihenfolge konsistent, Dialoge ankündigen, Fokus klar zurückführen.
  • Sichtbarkeit. Texte kontrastreich, Zustände klar markiert.


User mit sehbehinderung am Bildschirm


Durchführung

Die eigentliche Arbeit begann mit dem Umbau der Oberfläche – Schritt für Schritt wurden semantische, technische und visuelle Verbesserungen eingeführt.


Semantik schaffen

Wo Oberflächen nur optisch eine Liste darstellten, wurden echte Listen (<ul>, <li>) implementiert. Das verschafft Screenreadern Informationen über Länge und Position, die für Orientierung alternativlos sind. Tabellen werden mit <table>-Strukturen umgesetzt, Buttons mit <button> statt <div>.


Labels programmatisch verknüpfen

Formulareingaben erhielten echte Verbindungen zwischen Feld und Beschriftung. Damit erkennt ein Screenreader zuverlässig, was in ein Feld gehört. Das vermeidet Missverständnisse der Nutzer und steigert neben der Selbstständigkeit auch die Sicherheit im Umgang.


Tab-Navigation und Modale

Die Tastaturbedienung wurde so überarbeitet, dass alle Elemente erreichbar sind. Öffnet sich ein Modal, wird es sofort angekündigt und übernimmt den Fokus. Nach dem Schließen setzt sich die Navigation nachvollziehbar fort. Der Nutzer verliert nie die Orientierung.


Breakout-Räume als Fallstudie

Ein Beispiel zeigt die Bedeutung: In Jitsi’s Weboberfläche konnte man mit einem Button Breakout-Räume erstellen. Diese erschienen jedoch oberhalb des Buttons. Screenreader-Nutzer merkten davon nichts und navigierten weiter – ohne den erwarteten neuen Raum zu finden. Lösung: Die Reihenfolge wurde angepasst. Nun folgt auf den Button direkt die aktualisierte Raumliste. Erwartung und Wirklichkeit stimmen überein.


Kontraste und Fokusrahmen

Auch Nutzer mit eingeschränkter Sehschärfe profitieren von Anpassungen: Texte heben sich klar vom Hintergrund ab, aktive Elemente sind durch deutliche Rahmen oder Farbmarkierungen sichtbar. So ist immer erkennbar, wo sich der Fokus befindet.


ARIA gezielt einsetzen

Wo Semantik allein nicht reicht, kommen ARIA-Attribute zum Einsatz: etwa aria-expanded für aufklappbare Menüs, aria-controls für Beziehungen zwischen Elementen oder aria-live für dynamische Inhalte. Wichtig bleibt: ARIA ergänzt, ersetzt aber nicht.


Tests mit Assistive Technologien

Die Änderungen wurden mit Screenreadern und Tastaturnavigation geprüft. Getestet wurden komplette Abläufe: Einstieg ins Meeting, Erstellen von Breakout-Räumen, Arbeiten mit Modalen, Ausfüllen von Formularen. Erst solche Szenarien zeigen, ob Barrierefreiheit konsistent funktioniert.


Ergebnisse

Nach den Anpassungen zeigt sich, wie die Bemühungen Richtung weniger Barrieren den Umgang mit Jitsi Meet für alle Beteiligten spürbar verbesserte.

  • Bessere Orientierung. Screenreader-Nutzer wissen jederzeit, wo sie sind und welche Optionen bestehen.
  • Stabile Navigation. Modale und neue Elemente sind angekündigt und logisch erreichbar.
  • Klarheit. Kontraste und Markierungen machen Zustände sichtbar.
  • Robustheit. Die Oberfläche wirkt konsistenter.


Initiative Public Money, Public Code

Wir setzen uns seit vielen Jahren aktiv für die Initiative Public Money, Public Code der Free Software Foundation Europe ein, weil wir überzeugt sind, dass Software-Lösungen offen, frei und zugänglich für alle sein sollten.

Als Unternehmen ist es daher unser Ziel, entsprechende Weiterentwicklungen und Anpassungen nicht hinter verschlossenen Türen zu halten, sondern gemeinsamen mit unseren Partnern und Auftraggebern konsequent zu veröffentlichen. Daher wurden alle Anpassungen an Jitsi Meet in das öffentliche Repository übertragen. Ganz im Sinne der Initiative Public Money, Public Code.


Tabelle: Beiträge an den OSS Projekt Jitsi Meet im Zeitraum Januar 2025 – Mai 2025. (Stand: September 2025. Nur abgeschlossene Änderungen.)

Prüfschritt gemäß BITV Anwendungsbereich Link
9.2.4.3 Fokus-Reihenfolge Konferenz > Anwesende https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15900
9.1.1.1 Nicht-Text-Inhalt (Alternativtexte für Bedienelemente, Grafiken und Objekte) Konferenz https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15902
9.4.1.2 Name, Rolle, Wert Einstellungen https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15901
9.4.1.2 Name, Rolle, Wert Konferenz beitreten > Ton-Einstellung, Konferenz > Ton-Einstellung: https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15871
9.2.4.3 Fokus-Reihenfolge Einstellungen, Einstellungen > Kamera, Einstellungen > Hintergründe: https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15869
9.1.3.1 Info und Beziehungen (Beschriftung von Formularelementen programmatisch ermittelbar), 11.7 Benutzerpräferenzen Konferenz > Qualitätseinstellungen https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15867
10.1.3.1 Info und Beziehungen (Beschriftung von Formularelementen programmatisch ermittelbar) Konferenz > Umfrage https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15866
9.2.4.7 Fokus sichtbar Konferenz beitreten https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15201
9.2.4.7 Fokus sichtbar Konferenz beitreten https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15591
9.2.4.7 Fokus sichtbar Konferenz > Chat https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15221
9.1.3.1 Info und Beziehungen (HTML-Strukturelemente für Überschriften, Listen und Zitate), (Inhalt gegliedert) Konferenz > Umfrage https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15645
9.1.3.1 Info und Beziehungen (Inhalt gegliedert) Konferenz > Chat https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15667
9.1.3.1 Info und Beziehungen (Inhalt gegliedert) Konferenz > Anwesende > Alle stummschalten https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15674
(Datentabellen richtig aufgebaut) Konferenz https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15682
10.1.3.1 Info und Beziehungen (Beschriftung von Formularelementen programmatisch ermittelbar) Konferenz beitreten https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15772
10.1.3.1 Info und Beziehungen (Beschriftung von Formularelementen programmatisch ermittelbar) Einstellungen > Benachrichtigungen https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15770
9.4.1.2 Name, Rolle, Wert Konferenz > Chat https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15807
9.4.1.2 Name, Rolle, Wert Konferenz > Anwesende https://github.com/jitsi/jitsi-meet/pull/15813


Fazit

Barrierefreiheit zeigt sich im Detail: ein korrektes Label mit ARIA-Attributen, eine konsistente Tab-Reihenfolge, ein klarer Rahmen. Für sehende Nutzer sind diese Änderungen unsichtbar, für Menschen mit Assistive Technologien machen sie den Unterschied zwischen Zugang oder Ausgrenzung.

Die Anpassungen an der Jitsi Meet Weboberfläche verdeutlichen, wie bestehende Software durch gezielte Eingriffe deutlich inklusiver werden kann. Barrierefreiheit und Open-Source-Software passen besonders gut zusammen, da der offene Quellcode eine direkte und flexible Anpassung ermöglicht. Weiterentwicklungen und Anpassungen können in das OSS-Projekt zurückgespielt werden. Damit wird nicht nur das einzelne Projekt besser, sondern die gesamte Community profitiert – unabhängig von Interessen Einzelner.

Erreichen Sie digitale Zugänglichkeit mit Open-Source-Software. Lassen Sie uns gemeinsam Ihre Software barrierefrei und offen gestalten. Wir unterstützen Sie dabei.

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